Historie und Legitimation
Hauswirtschaft als Mädchenbildung
Die haushaltsbezogene Schulbildung im letzten Jahrhundert war bis in die 60er Jahre hinein eine reine Mädchenbildung. Der Unterricht im Fach „Hauswerk“, „Familienhauswesen“, „Hauswirtschaft“ usw. sollte vor allem Mädchen „aus dem Volke“ auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten. Das Fach war überwiegend an den Volksschulen vertreten, wenngleich es auch einige Mädchengymnasien mit hauswirtschaftlichem Schwerpunkt gab.
1964 – die „erste“ deutsche Bildungskatastrophe (Georg Picht)
Der steigende Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften und die durch empirische Forschungen
aufgedeckte „soziale Diskriminierung im Bildungswesen“ lösten öffentliche
Diskussionen darüber aus, ob die in den Schulen vermittelte Bildung noch den Anforderungen einer
modernen Industriegesellschaft entsprechen könne.
Erstmals wurden grundlegende Strukturwandlungen in der Organisation des Bildungswesens und grundlegende
Veränderungen der Lerninhalte gefordert. An die Stelle der Anpassung von Lehrplänen an den
Strukturwandel der Gesellschaft trat nun die Diskussion um eine prinzipielle Rechtfertigung staatlicher
Normierungen von Schularbeit überhaupt.
Haushaltsbezogene Bildung als Vorbereitung für das Leben
Im Gefolge der Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates kam es zur Einführung der Koedukation auch
im Fach Hauswirtschaft. Im Rahmen der Entwicklung eines Lernbereichs bzw. Faches Arbeitslehre wurde der
Bereich der privaten, nicht entlohnten Arbeit des Alltags als Bildungsinhalt für beide Geschlechter
gleichermaßen anerkannt.
In den Bundesländern entstanden unterschiedlich stark verpflichtende Angebote, unterschiedliche
Fächerbezeichnungen und unterschiedliche inhaltliche Verknüpfungen, die der Koedukation
Rechnung tragen sollten. In Nordrhein-Westfalen wurde das Fach z. B. umbenannt zur
„Haushaltslehre“, in Berlin wurde es integriert in die neu entwickelte
„Arbeitslehre“ usw.
Inhaltlich war der Schwerpunkt nicht mehr auf die Hausfrauen- und Mutterrolle gesetzt, sondern auf die
Bewältigung und Gestaltung des alltäglichen Lebens, damit sollte den Anforderungen an das
Leben in einer demokratischen Industriegesellschaft Rechnung getragen werden.
PISA – die „zweite“ deutsche Bildungskatastrophe?
Die weitgehenden Strukturwandlungen der letzten Jahrzehnte haben die Lebensbedingungen und Lebensführung der Menschen verändert und fordern für deren Bewältigung neue und erweiterte Kompetenzen. Die Ergebnisse der PISA-Studien haben die Diskussion um soziale Gerechtigkeit und gleichberechtigte Zugangs- und Teilhabechancen im deutschen Bildungssystem sowie um die Bildungsaufgaben der Schulen angefacht. Zu den notwendigen Voraussetzungen für eine gelingende Bewältigung und Gestaltung des Lebens zählt auch die Ernährungs- und Verbraucherbildung .
Vielfältige Kompetenzen im Feld der Ernährungs- und Verbraucherbildung haben den Rang einer
Kulturtechnik, sind unverzichtbares Bildungsgut einer Gesellschaft und unabdingbare Voraussetzung
für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Diese Kompetenzen werden immer weniger
familiär tradiert und können auch nicht per Zufall im Lebensvollzug angeeignet werden, sie
gehören in den Kanon der Allgemeinbildung ebenso hinein wie sprachliche oder mathematische
Kompetenzen.
Schule hat also aktueller den je die zentrale Aufgabe, den Anspruch jedes Menschen auf die notwendige
„Functional Literacy“ einzulösen. Das für die Lebensführung grundlegende
Kulturwissen zur Lebensplanung und Berufsfindung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie,
Work-Life-Balance, Risikoabsicherung sowie zur Gesundheitsförderung usw. muss in Schulen vermittelt
werden – und zwar in allen Schulstufen, Schulformen und Bildungsgängen.
Ernährungs- und Verbraucherbildung stellt dabei kein eigenständiges oder gar neu zu
entwickelndes Fach in unseren Schulen dar, sie ist vielmehr in eine Reihe traditioneller
Unterrichtsfächer integriert.
Das Fach Hauswirtschaft (in seinen verschiedenen Fachbezeichnungen in den einzelnen Bundesländern)
ist allerdings das einzige Unterrichtsfach, in dem sowohl ernährungsbezogene als auch
verbraucherbezogene Inhalte kontinuierlich und vernetzbar implementiert sind.
Schule muss ernst machen mit dem Leben
Der Erwerb von Kulturtechniken für eine erfolgreiche Lebensführung und Lebensgestaltung beinhaltet auch die Vermittlung von Kompetenzen für gesundheitsförderliche Ernährungsweisen und ein reflektiertes und selbstbestimmtes Konsumhandeln. Eine moderne und qualifizierte Ernährungs- und Verbraucherbildung ist deshalb unverzichtbarer Bestandteil einer zukunftsorientierten Grundbildung.
[Stand: 10.3.2005]